Versuch einer metasprachlichen Selbstverortung
Sprache mag zwar in einer sich individualisierenden Gesellschaft zu einer der letzten Bastionen kollektiver Identität gehören und in dieser Funktion auch immer wieder bewusst ge- bzw. missbraucht werden, was nicht selten mit Phrasen von „Reinheit“ oder „Bewahrung“ einhergeht, doch wer vorgibt, um die Sprache besorgt zu sein oder gar meint, sich zu deren Rettung anschicken zu müssen, sollte den Kommunikationscharakter der Sprache und damit verbunden ihre materiellen Grundlagen in den Blick nehmen. Denn Menschen sprechen miteinander, weil sie ihre Bedürfnisse befriedigen wollen, miteinander und aneinander. Sprache gehört zur Kultur im Wortsinn indem sie auf die Umwelt Einfluss nimmt, diese formt und das Geformte verewigt. Doch die Objekte, die mit dem Werkzeug Sprache „bearbeitet“ werden, sind selbst Gestalter und Träger dieses Werkzeugs. Eine Sprache lebt nur in der Interaktion. Nur solange sie von anderen Menschen verstanden werden kann, hat sie einen Einfluss und dass ihr Material gleichzeitig auch Nutzer ihrer selbst ist, garantiert unaufhörliche Entwicklung – auf beiden Seiten. Die Menschen verändern die Sprache und das Gesagte verändert die Menschen, nicht selten sogar die Sprecher während des Akts der Äußerung selbst. Das Denken selbst deckt sich fast völlig mit den sprachlichen Strukturen; die dem Begriff vorausgehende Idee lässt sich nicht mehr fassen. Wir alle lernen bereits sprechen, während wir zaghaft die Umwelt zu kategorisieren und über diese zu verfügen versuchen. Dass damit jedes Besondere durch ein Allgemeines, indem es als solches benannt wird, immer gedanklich verfügbar wird, macht die Vorstellung und damit das Denken unabhängig von der Umwelt und damit erst zum sich selbst genügenden System, in dem Menschen ebenso wie in der physischen Umwelt schaffend tätig werden können.
Die Utopie einer Weltgesellschaft ist eng mit einer Weltsprache verbunden. Die Existenz einer Weltsprache bedeutet auch, dass jede geäußerte Möglichkeit zur Möglichkeit aller Menschen wird. Die biblische Sprachverwirrung nach dem Turmbau zu Babel wird dort als Strafe bezeichnet – wer auch immer diese kleine Erzählung, die die utopische Idee der Weltsprache dem verlorenen Paradies gleich in einer fernen Vergangenheit verortet, verfasste, war sich des primären Charakters der Sprache bewusst: Kommunikation und damit gemeinsamer wie gegenseitiger Zugriff. Nur für die (noch) außerhalb der Sprache stehenden Kleinkinder erscheint dieser wie eine magische Beschwörung, die nicht selten eine Handlung auslöst. Für sie ist die Verbindung zwischen dem Bezeichnenden und dem Bezeichneten noch unerklärlich. Das Bezeichnete aber, die Umwelt, existiert nur einmal, während sich die sprachliche Abbildung dieser unendlich oft unterscheiden kann. Mit Sprache und dem Denken, das in sprachlichen Strukturen vollzogen wird, ist ein Wahrheitsanspruch verbunden, der immer auch die Differenz zwischen Objekt, also jeder Form von Umgebung, und dem Subjekt, das sich zu dieser in Beziehung setzt, in sich trägt. Er manifestiert sich im Versuch, diese Differenz zu überwinden – durch Kognition und deren sprachliche Werkzeuge. Die Differenz kann nie völlig überwunden, aber zumindest verringert werden, und das auch nur von Seiten des Subjekts aus – der umgedrehte Fall der Überwindung der Distanz zwischen Objekt und Subjekt ist nichts anderes als der Tod des Subjekts.
Das alles und noch viel mehr ist wichtig, um über die Funktion von Sprache sprechen zu können. Alltägliches, dessen Grundlagen und Funktion wir vergessen, verkommt oft zum Ritual und zur Ideologie. Möchte man mit Sprache arbeiten, ohne dabei unfreiwillig zu lügen oder der Entsubjektivierung das Wort zu reden, muss man immer ihre Funktion im Blick behalten. Wenn die Überwindung der Distanz zwischen Objekt und der einen Umwelt die primäre Funktion der Sprache ist, zu der auch die Kommunikation zwischen den Menschen, die sich ebenfalls immer im Subjekt-Objekt-Verhältnis gegenüberstehen, gehört, gibt es folglich eine natürliche Tendenz zur Überwindung von Sprachbarrieren. Dazu kommt, dass im Rahmen der beschriebenen Funktion die sprachlichen Zeichen zwar von willkürlicher Entstehung sein können, ihre Verwendung aber der größtmöglichen Schärfe unterliegen muss, um die Differenz zwischen Subjekt und Objekt so gut wie möglich überwinden zu können – und sich letztlich mitzuteilen. Da die Art und die Verwendung der Zeichen nur auf Konvention der Sprecher beruht und zugleich anhand der beschriebenen Grundverhältnisse ständiger Veränderung unterworfen ist, erfordert es ein besonders hohes Maß an Aufmerksamkeit, das Werkzeug Sprache richtig anzuwenden. Unter der Idealvorstellung einer sich der Funktion der Sprache bewussten Menschheit, die in einem weltweiten Austausch stünde, würde sich eine Weltsprache entwickeln, die dem Wahrheitsanspruch und dem Kommunikationsbedürfnis immer besser Rechnung trüge, ohne je zu einem Abschluss zu kommen. Zugleich ist eine derartige Entwicklung kaum realisierbar, und auch wenn sich Englisch so langsam zu einer weltweit verstandenen Sprache entwickelt, wird sich die grundlegende Sprachkritik auf absehbare Zeit weiterhin an mehrere hundert weitere im Alltag verwendete Schriftsprachen halten müssen, bevor vielleicht irgendwann ein heute noch nicht genau vorhersehbares Derivat des Englischen weltweit ins Zentrum rücken wird.
Theoretisch muss also klar sein – und hier schlage ich den überspannten, gerissenen und wieder geflickten Bogen zum individuellen Ausgangspunkt zurück – , dass allen sprachlichen Äußerungen allgemeingültige Prinzipien zugrunde liegen. Ich nehme in Kauf, damit Menschen zu düpieren, die schreiben und sprechen wie „ihnen der Schnabel gewachsen ist“, was meistens heißt, dass sie die Worte eines Kollektivs zu den ihren gemacht und die eigene Subjektivität auf ein Minimum reduziert haben. Das heißt bei weitem nicht, dass jeder, der sich des riesigen Fundus an sprachlichem Material, das zudem noch permanenter Veränderung unterworfen ist, nicht sicher zu bedienen weiß, ein Defizit in der Persönlichkeitsentwicklung aufweist. Dies gilt nur für solche, die dies ohne Zweifel und mit absoluter Selbstgewissheit tun. Für erstere bin ich u. a. als – keineswegs unfehlbarer und selbst sich ständig weiterentwickeln müssender – Lektor in jeder Hinsicht gerne zur Unterstützung bereit. Letztere würden niemals auf die Idee kommen, Hilfe oder Prüfung ihrer sprachlichen Äußerungen in Anspruch zu nehmen. Und so gilt jenseits der handwerklichen Komponenten des Lektorats, dass Sprachkritik immer auch Ideologiekritik sein muss, denn die schlimmsten Lügen sind die, die von denjenigen, die sie äußern, selbst geglaubt werden, weil in einem solchen sprachlichen Austauschverhältnis die sonst vorhandene innere Möglichkeit der Berichtigung fehlt und Ideologie somit immer auch die Sprache selbst manipuliert.