09 Jul

Eine zeitlose Wunde? Überlegungen zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Shoah-Gedenkstätten in Europa

Die großen Gedenkjubiläen, die für 2020 geplant waren, sind coronabedingt weitestgehend ausgefallen. 80 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz und der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands war es nicht möglich, dass sich die immer kleiner werdende Gruppe der Überlebenden an den ehemaligen Orten der NS-Massenvernichtung versammelt. Ohnehin haben sich aber viele Gedenktage in den letzten Jahrzehnten zu repräsentativen Routineterminen entwickelt, denen oft eine politische Legitimationsfunktion zukommt. Daraus lässt sich zumindest ableiten, dass die Massenverbrechen der deutschen Nationalsozialisten und insbesondere die Shoah, die Vernichtung der europäischen Juden, zu einem zentralen Bezugspunkt in den europäischen Gesellschaften geworden sind. Ob (gerechtfertigte wie falsche) NS-Vergleiche, Forderungen nach einem Ende des Gedenkens oder eine positive nationale Mythenbildung als NS-Gegner oder Opfer, Shoah und Nationalsozialismus spielen bei gesellschaftlichen und politischen Debatten immer wieder eine große Rolle. Dass selbst unterschwellige Anspielungen heute von großen Teilen der europäischen Bevölkerung verstanden werden (und nicht selten den einen oder anderen Shitstorm auslösen), zeigt, wie stark die NS-Vergangenheit ins kollektive Gedächtnis in Europa eingegangen ist. Den regelmäßigen mit berufsbedingtem Alarmismus präsentierten Schlagzeilen, in denen mangelndes Wissen über Shoah und Nationalsozialismus beklagt wird, lässt sich entgegenhalten, dass es kaum ein anderes historisches Ereignis gibt, das derart ikonisch zum Referenzpunkt in allen europäischen Gesellschaften wurde. Zu dieser Entwicklung hat nicht zuletzt eine zumindest zeitweise US-amerikanisch dominierte Erinnerungskultur (befeuert beispielsweise durch die Serie Holocaust und Spielbergs Schindlers Liste) mit tendenziell globalem Anspruch beigetragen, die aber natürlich sehr unterschiedliche Verbindungen mit den jeweiligen nationalen Erinnerungen und Deutungen einging. Die Erinnerung an den Nationalsozialismus und dessen Gewalt verbindet also heute fast alle europäischen Staaten und Kulturen miteinander. Schon die Idee eines gemeinschaftlichen europäischen Wirtschaftsraums, wie er heute in der EU verwirklicht ist, wurde mit der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs begründet. Der Einfluss einer internationalen Holocaust-Erinnerung konfrontierte schließlich auch nationale Selbstgewissheiten und verband sich besonders in Mittel- und Osteuropa mit den Pluralisierungsbestrebungen einer neuen Mittelschicht, die die Mythen der homogenen Nation zunehmend hinterfragte. So sind es beispielsweise in Polen vor allem Angehörige liberaler, oft großstädtischer Milieus, die in vielfältigen Initiativen an die jüdische Vergangenheit der multikulturellen Republik vor dem Zweiten Weltkrieg, aber vermehrt auch an Antisemitismus als Teil der eigenen, nationalen Geschichte erinnern. Zugleich werden besonders in den vormaligen Ostblockstaaten die Auseinandersetzungen um kollektive Identitäten als Grundlage des nationalstaatlichen Selbstverständnis besonders hart geführt – auch hier spielt der Bezug zu Zweitem Weltkrieg, Nationalsozialismus und oft auch zur Shoah eine besondere Rolle.

Der als vollständige Vernichtung geplante Massenmord der als „Gegenrasse“ halluzinierten Juden wurde von den deutschen Nationalsozialisten und ihren Unterstützern vor allem im östlichen Mitteleuropa und in Osteuropa durchgeführt. Hier lebte zum einen der größte Teil der europäischen Juden und ihrer Nachfahren auf dem Boden der früheren polnisch-litauischen Adelsrepublik, in der Juden deutlich mehr Freiheiten als im restlichen Europa gewährt wurde. Zum anderen sollte die Massenvernichtung nicht vor den Augen der (überwiegend westlich geprägten) Weltöffentlichkeit, sondern in ländlichen und weniger entwickelten Regionen mit geringerer Bevölkerungsdichte stattfinden, wobei die Verantwortlichen eine Verwischung der Spuren erst mit der beginnenden Kriegswende 1942 für nötig hielten. Nachdem die mobilen ‚Einsatzgruppen‘ bereits hunderttausende Juden im Rücken der Ostfront ermordet hatten, errichteten die Deutschen in Kulmhof (Chełmno), Bełżec, Sobibór, Treblinka und Auschwitz (Oświęcim) Vernichtungslager, um die Effizienz des Massenmords noch zu steigern – und gleichzeitig die Täter arbeitsteilig zu entlasten. Diese fünf Orte befanden (und befinden) sich alle auf polnischem Territorium; die zahlreichen weiteren Massentötungen fanden vor allem auf dem Gebiet der heutigen Ukraine, Weißrusslands, des Baltikums, Westrusslands und des westlichen Balkans statt. Die Orte der Shoah gehörten damit nach 1945 größtenteils zur sowjetischen Einflusssphäre, in der eine gezielte Erinnerung an die Judenvernichtung der propagierten sozialistischen Einheit entgegenstand. So wurden zwar die Massenmorde durchaus in den Ostblockstaaten thematisiert, aber die Opfer der Vernichtungslager in der Regel unterschiedslos zu polnischen oder sowjetischen „Staatsbürgern“ erklärt, während die deutschen Täter und ihre Helfer üblicherweise als „Hitleristen“ bezeichnet wurden. Die konkrete Benennung von Opfern und Tätern verschwand vielerorts hinter der antiimperialistischen Faschismustheorie, die den modernen Antisemitismus und die Spezifik des Nationalsozialismus kaum fassen konnte. Eine Differenzierung der Opfer hätte dagegen dem Ideal der sozialistischen Gesellschaft widersprochen, die offiziell keine Unterschiede zwischen den Menschen kannte und sie daher auch nicht mit Blick auf die Opfer der Nazis zulassen wollte. Das universalistische Menschenbild wurde so nicht nur zur Forderung für eine bessere Zukunft, sondern durch rückblickende Projektion bereits für die sozialistische Gegenwart bestätigt. Als argumentative Untermauerung des eingeschlagenen Wegs ließ das teleologische Geschichtsbild des Ostblocksozialismus nur wenig Widersprüche in der Deutung der Vergangenheit zu. Hinzu kamen antisemitische Kampagnen wie unter Stalin seit 1948 oder in Polen 1968, die die Überlebenden der Judenvernichtung unter den Verdacht stellten, „kosmopolitische“ und „zionistische Agenten“ zu sein. In vielen Ländern Mittel- und Osteuropas wanderte die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung aus. Mit den neuen Möglichkeiten nach 1989 erreichte die jüdische Auswanderungswelle einen neuen Höhepunkt, sodass heute in den ehemaligen Ostblockstaaten kaum noch Juden leben. Zwar kam es in einigen Metropolen wie Warschau, Krakau, Budapest und Prag zu einer kleinen Renaissance der jüdischen Kultur, was nicht zuletzt auch auf die zunehmend internationale Erinnerung an die Shoah zurückzuführen ist, aber diese Entwicklung wird weniger durch eine breite Basis in der Bevölkerung als vielmehr durch das Engagement von Gruppen, Initiativen und Einzelpersonen getragen, die nicht unbedingt eine konkrete Verbindung zur jüdischen Vergangenheit vor Ort haben müssen. Das spezielle Interesse an Shoah und Zweitem Weltkrieg birgt zudem für Kultureinrichtungen, Museen, Synagogen etc. das Problem, dass sich ein Großteil der Besucher nicht für jüdische Kultur allgemein interessiert, sondern eher für deren Auslöschung. Mit dem Zwiespalt, diesem Interesse entgegenzukommen und zugleich auf dieser Basis wieder zu einer Stärkung der jüdischen Kultur in ihrer früheren Heimat beizutragen, lassen sich die gegenwärtigen Versuche des Shoah-Gedenkens vor Ort gut beschreiben. Initiativen wie die Ronald-Lauder-Stiftung konnten außerdem nur wenige Juden gewinnen, um das jüdische Leben in Mittel- und Osteuropa wiederaufzubauen. Die europäische Erinnerung an die Shoah ist daher zwangsläufig nicht nur durch die Abwesenheit der Opfer, sondern auch deren Kultur (im weitesten Wortsinn als alles, was weitergegeben werden kann), geprägt.

Zwischen Erinnerung und Aneignung

Unter diesen Bedingungen ist es kein Wunder, dass die Aufarbeitung und die Erinnerung an die Shoah und die jüdische Geschichte in Europa vor allem weit entfernt von den eigentlichen Schauplätzen der Massenmorde ihren Anfang nahm und, mit Ausnahme Israels (wobei auch hier lange Zeit der Fokus zunächst eher auf den jüdischen Widerstand gelegt wurde), erst spät institutionalisiert wurde. Seit den 80er Jahren kam es dann zu einem regelrechten Erinnerungs-Boom, der auch das United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) und das Berliner Holocaust-Mahnmal sowie eine Vielzahl kleinerer Gedenkorte hervorbrachte. Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks rückten schließlich auch die früheren Tatorte der Massenvernichtung wieder stärker in den Fokus. In der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau stiegen die Besucherzahlen rasant an und das Bildungs- und Informationsangebot wurde kontinuierlich überarbeitet bzw. erweitert. 1991 wurde mit einer steinernen Menora erstmals sichtbar an die jüdische Herkunft der Opfer des Massakers von Babyn Jar in Kiew erinnert. Auf Initiative von Miles Lerman, der auch zu den Mitbegründern des USHMM zählte, wurde 1995 ein Vertrag zwischen Washingtoner Holocaust-Museum und der polnischen Regierung über die Errichtung einer neuen Gedenkstätte in Bełżec unterzeichnet. Vor allem in Polen, wo vor dem Zweiten Weltkrieg die Hälfte aller Shoah-Opfer lebte, setzte verstärkt die Aufarbeitung der lokalen jüdischen Geschichte, der unzähligen Massenmorde an Juden im ganzen Land sowie auch zum Teil der Verstrickungen der örtlichen Bevölkerung ein. Besonders Exilpolen jüdischer Abstammung wie Jan Tomasz Gross (Nachbarn) oder Jan Grabowski (Dalej jest noc, zusammen mit Barbara Engelking) sorgten mit ihren Untersuchungen für große Kontroversen. Die Erinnerung an das Massaker von Jedwabne, wo unter den Augen der Deutschen 1941 hunderte Juden von ihren polnischen Nachbarn ermordet wurden, spaltete die polnische Bevölkerung und steht bis heute stellvertretend für die Schwierigkeiten, die die unterschiedlichen Perspektiven auf die gemeinsame Vergangenheit auslösen können.
In Polen wird besonders deutlich, welchen Problemen das Gedenken an die Shoah auch in Zukunft ausgesetzt sein könnte. Trotz der wirtschaftlichen Konsolidierung ist das Land seit rund 15 Jahren gesellschaftlich wie politisch größtenteils in ein nationalkonservatives und in ein eher liberales Lager gespalten – und angesichts des fundamental verschiedenen Verhältnisses zu den Grundlagen politischer Willensbildung und deren Umsetzung ist „Spaltung“ hier keine billige journalistische Phrase. Für die derzeit regierende nationalkonservative PiS (Recht und Gerechtigkeit) ist der Zugriff auf die Vergangenheit entscheidend, um eine homogene Nation herzustellen, in der politische Übereinkünfte quasi bereits vorweggenommen sind. Mit dem Blick auf die Zeit des Zweiten Weltkriegs bedeutet das, eine unbedingte Unschuld der Polen an Verbrechen, heroisches Verhalten und den Opferstatus zu betonen, sodass die eigene Politik auf einem uneinholbaren moralischen Bonus aufbaut. Der Zugriff auf die Geschichte durch die PiS ist dabei mit den verschiedenen neurechten Bewegungen in Europa vergleichbar. Überall, wo diese politische Gestaltungsmacht erhalten, betreiben sie aktiv Geschichtspolitik und schränken die Möglichkeiten kritischer Forschung und deren Reichweite ein. Unabhängig von den staatlichen Eingriffen in Forschung und Medien wirft dies im Hinblick auf das Shoah-Gedenken eine wichtige Frage auf: Gibt es einen zentralen Verständnis- und Gedenkansatz, der unseren Umgang mit der Shoah prägen sollte, oder bieten plurale Deutungsansätze, zu denen auch verschiedene nationale Perspektiven gehören können, bessere Möglichkeiten für unser künftiges Verhältnis zur Ermordung der europäischen Juden? Geht man von der Shoah als einem singulären Ereignis, das sich in Ursache und Umsetzung deutlich von anderen Massenmorden und Genoziden unterscheidet, aus, wird es für andere Gruppen problematisch, wenn sie ihre eigene Erinnerung an Gewalt und Unterdrückung der Vernichtung der Juden gleichstellen. Wenn die verschiedenen nationalen Gemeinschaften in Osteuropa eigene kollektive leidvolle Erfahrungen in den Mittelpunkt rücken, ist das immer wieder auch mit Relativierungen, Leugnungen oder gar Rechtfertigungen der Shoah verbunden. Die regelmäßigen Ehrungen von regionalen SS-Verbänden wie im Baltikum haben ihren Ursprung in der Gegnerschaft zwischen Deutschem Reich und Sowjetunion. Letztere wurde nicht zuletzt aufgrund des russischen Imperialismus als der eigentliche, ursprüngliche Unterdrücker wahrgenommen. Eine Anerkennung der Shoah als beispielloses Ereignis der Massenvernichtung und womöglich sogar der eigenen historischen Verstrickungen könnte die beschworene Gemeinschaft schwächen oder sogar delegitimieren – und damit ihre Loslösung und Unabhängigkeit vom sowjetischen bzw. russischen Einfluss untergraben. Erfolgt dagegen aus einer solchen betont nationalen Perspektive eine Anerkennung und Aufarbeitung der Shoah als singuläre Form des Massenmords, wird der Fokus dann darauf gelenkt, dass die Angehörigen der eigenen Gruppe Helden und Retter, zumindest aber auf keinen Fall die Täter unterstützt haben. In den jungen osteuropäischen Demokratien überlagern sich diese beiden Narrative und finden teilweise, trotz der damit verbundenen Widersprüche, auch parallel Anwendung. Die polnische Regierung treibt so beispielsweise aktiv das Gedenken an die Shoah voran und stärkt die Aufarbeitung finanziell und institutionell (die lange vernachlässigte Gedenkstätte in Treblinka hat seit 2019 den Status eines staatlichen Museums), legt aber gleichzeitig den Schwerpunkt der Erinnerungspolitik auf den Widerstand und die Unterstützung von Juden durch Polen. Das Museum des Warschauer Aufstands, das mit Erlebnispädagogik zum heroischen Kampf erzieht, wurde ebenso maßgeblich durch Vertreter der PiS geprägt wie das ‚Museum der Polen, die Juden retteten‘. Bei Gedenkveranstaltungen an den verschiedenen Orten der Shoah wird von Regierungsvertretern wie in den Zeiten der Volksrepublik wieder in erster Linie von „polnischen Staatsbürgern“ gesprochen, um die leidvolle polnische Vergangenheit in den Fokus zu rücken. Kritiker des nationalen Geschichtsbildes haben dagegen mit einschneidenden Maßnahmen zu rechnen. So wurde der Gründungsdirektor des Danziger Weltkriegsmuseums, Paweł Machcewicz, kurz nach der Eröffnung des Museums entlassen und der Leiter des Museums der Geschichte der polnischen Juden (POLIN), Dariusz Stola, wurde 2019 unter fadenscheinigen Begründungen durch den polnischen Kulturminister suspendiert.
Pikanterweise lässt sich eine derartige nationale Instrumentalisierung der Shoah samt der Ausschlüsse, die sie produziert, durchaus mit den Forderungen nach Multiperspektivität im postkolonialen Diskurs rechtfertigen. Besonders in Polen hat die Frage, wem Auschwitz eigentlich „gehört“, immer wieder zu heftigen Diskussionen geführt, wie zum Beispiel am Streit um das Karmeliter-Kloster, das schließlich 1993 aus der unmittelbaren Nachbarschaft des ehemaligen Lagers um einige hundert Meter verlegt wurde, deutlich wurde. Folgt man Vertretern postkolonialer Erinnerungsansätze wie Dirk Moses, Jürgen Zimmerer oder Michael Rothberg, sollte jede Gruppe das Recht auf einen eigenen Zugang zur Shoah haben und die eigenen kollektiven Leiderfahrungen mit dieser in einen Zusammenhang bringen dürfen, nicht zuletzt auch um Opferhierarchisierungen zu vermeiden. So multiperspektivisch und vielseitig wie oft beschworen können aber solche Ansätze gar nicht sein, da mit dem Sterben der Zeitzeugen die individuellen Erinnerungen verschwinden. Wie wir heute die Shoah wahrnehmen, ist durch gesellschaftliche Diskurse, durch Film, Literatur und Kunst, und nicht zuletzt durch die Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft geprägt. Dieses Wissen tragen wir schließlich an die Orte und ihre Geschichte heran. Wenn man davon ausgeht, dass die Grundlagen eines solchen kollektiven Gedächtnisses nicht mit Fakten und wissenschaftlichen Erkenntnissen sowie darauf aufbauend argumentativen Auseinandersetzungen gelegt werden, sondern einfach auf beliebigen Narrativen beruhen, von denen keins „wahrer“ als das andere ist, wird der Raum für nationale Mythen samt der ihnen innewohnenden Gewalt weit geöffnet. Am Ende hätte dann eben jedes Volk berechtigterweise seinen eigenen „Holocaust“ oder zumindest eine eigene Perspektive auf diesen.
Trotz der zumindest in der EU recht umfangreichen Gedenkarbeit an vielen Orten der Shoah steht die Zukunft der Gedenkstätten also vor einer schwierigen Entwicklung. Nicht nur die Zeitzeugen, sondern auch die letzten unmittelbaren Angehörigen und Nachfahren der Ermordeten werden in Kürze verschwunden sein. Damit verlieren die Gedenkorte eine ihrer ursprünglichen Funktionen: ein Ort individueller Trauer zu sein. Nur noch wenige Menschen auf der Welt haben heute einen konkreten, individuellen Bezug zu einem der ermordeten Opfer. Dass die Orte dennoch weiterhin in ihrer jetzigen Form existieren werden, ist ein Unterschied zu vielen „gewöhnlichen“ Friedhöfen: Die Gräber werden nicht nach einer festgelegten Zeit aufgelöst, ihre Erinnerungsfunktion bleibt also erhalten. Dass wir die (Massen-)Gräber und Tötungsorte der Shoah für erinnerungswürdig halten, liegt vor allem am geplanten, massenhaften Mord als einem Ereignis, das in unserer Gesellschaft nach wie vor als sehr bedeutsam eingeschätzt wird, und das tendenziell mit globalem Anspruch. Die Gedenkorte werden daher auch weiterhin als Tatorte mit Beweischarakter erhalten. Daraus erwächst das Ziel historischer Bildung, die die Shoah in ihrem historischen Kontext darstellen kann und die Verknüpfung mit der Gegenwart ermöglicht – womit dann durchaus auch die Grundlage für individuelle Auseinandersetzungen gelegt wäre. Schließlich, und das ist ein noch recht junger Ansatz, kommt den Gedenkstätten vermehrt die Aufgabe der „Menschenrechtsbildung“ zu. Eine solche ist einerseits, allen Relativierungen zum Trotz, ohne einen universalistischen Ansatz nicht zu haben, muss aber andererseits die Shoah stärker in einen Zusammenhang mit aktuellen Menschenrechtsverletzungen bringen und droht so immer auch, die Besonderheiten der Judenvernichtung zu verdecken. Vielleicht kann man in der Übertragung dieser Aufgabe an die Shoah-Gedenkstätten auch einen Schritt in Richtung Adornos ‚kategorischen Imperativ‘, nämlich alles zu tun, damit Auschwitz sich nicht wiederhole, erkennen, aber solange die Bewusstlosigkeit gesellschaftlicher Zusammenhänge im Sinn neoliberaler Ideologie als größtmögliche Freiheit wahrgenommen wird, sollte man die Möglichkeiten der Gedenkstättenpädagogik nicht überbewerten.
Davon ausgehend muss in Bezug auf meine weiteren Überlegungen zur Zukunft der Shoah-Gedenkstätten noch konkret die Frage gestellt werden, was die Shoah für uns heute bedeutet bzw. bedeuten kann. Wie alle Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit entsprang auch der Antisemitismus nicht nur aus Verallgemeinerungen, sondern vor allem aus Projektionen (der Täter). Im Unterschied zu klassisch rassistischen Projektionen war aber der moderne Antisemitismus nicht mehr auf einen wahrnehmbaren Unterschied angewiesen, anhand dessen eine Freund-Feind-Unterscheidung (durchaus im Sinn Carl Schmitts zu verstehen) entwickelt werden konnte. Einem derart unsichtbaren Gegner konnte alles zugeschrieben werden, von der biologischen Minderwertigkeit bis hin zur weltbeherrschenden Übermacht. Die stereotypen Bilder der Nazis vom Judentum, wie es in Teilen Osteuropas optisch tatsächlich noch vorherrschte, entsprachen in keinster Weise mehr der Realität im Deutschland der 20er und 30er Jahre. Die Erfindung der „jüdischen Rasse“ sollte die vermeintlichen verborgenen Mächte hinter der komplexen kapitalistischen Gesellschaft, die ihre Mitglieder zu bloßen „Charaktermasken“ (Marx) degradiert, sichtbar machen – der Antisemitismus ist gewissermaßen die Mutter aller Verschwörungstheorien. Die Einschränkungen und Versagungen des Einzelnen, die dieser um des großen (unbegriffenen) Ganzen willen ertragen muss, werden auf eine Gruppe projiziert, bei der es sich aus historischen Gründen um Juden handelt – oder diejenigen, die der Antisemit heute dazu erklärt. Der Vernichtungsantisemitismus zielte auf die absolute Verdrängung aller unerfüllbaren Verlangen und letztlich auf den immerwährenden Zweifel ab, der mit den Juden endgültig ausgelöscht werden sollte. In der Shoah wurden die Juden stellvertretend für alles, was ein Mensch sein könnte, ermordet. Hannah Arendt schreibt in Eichmann in Jerusalem von einem „Verbrechen gegen die Menschheit, begangen am jüdischen Volke“. Diese Leerstelle weiterhin für alle sichtbar zu machen und einen verbindenden Bezug herzustellen, der nicht zwischen verschiedenen kollektiven Identitäten unterscheidet, wäre unter den derzeitigen gesellschaftlichen Bedingungen die dringlichste Aufgabe der Gedenkorte, die ihren Zweck als Orte individueller Trauer in Kürze vollständig verloren haben werden.

Die Spur im Raum

Dass die Verbrechen der Nazis zuvor gekannte Formen von Gewalt und Unterdrückung qualitativ und quantitativ übertrafen, war außerhalb Deutschlands ein früher Konsens, wenn auch zunächst die Vernichtung der Juden nur selten gesondert hervorgehoben wurde. Bereits in den 40er Jahren wurden in Europa einige Tatorte der Massenmorde zu Gedenkstätten erklärt, darunter auch die Lager Majdanek und Auschwitz. An vielen weiteren Orten wurden auf Initiative von Überlebenden und Angehörigen der Opfer in den 50er und 60er Jahren Denkmäler und Gedenkstätten errichtet. Letztere verbinden eine architektonische Erschließung des Raumes mit einem Bildungsauftrag, z. B. durch Museen oder Ausstellungen. Die heutigen Gedenkstätten an die Shoa lassen sich in drei Kategorien einteilen: 1. authentische Orte mit erhaltenen Spuren, 2. authentische Orte mit wenig oder keinen erhaltenen Spuren und 3. Gedenkstätten jenseits der eigentlichen Tatorte. Die dritte Kategorie, zu denen beispielsweise Yad Vashem und das Berliner Holocaust-Mahnmal gehören, steht hier zwar nicht im Vordergrund, spielt aber, gerade weil sie nicht unmittelbar an den historischen Ort gebunden ist, für universalistische Ansätze von Gedenken und Gedenkarchitektur eine große Rolle.
Raum gehört neben der Zeit zu den grundlegenden Dimensionen menschlicher Erfahrung. Während wir die Gesamtheit unserer Erfahrungen in eine zeitliche Ordnung bringen und unser Verständnis von Zusammenhängen stark durch das chronologische Prinzip von Ursache und Wirkung geprägt ist, präsentiert sich uns ein Gedenkort zunächst unmittelbar – vorausgesetzt, wir tragen kein Vorwissen an diesen Ort heran. Die Reste von Baracken auf einer grünen Wiese können wir nur einordnen und deuten, wenn wir über historisches Vorwissen über diesen speziellen Ort verfügen oder durch Schilder etc. direkt darauf hingewiesen werden. Bilder, die mittlerweile Teil unseres kulturellen Gedächtnisses sind (Stacheldraht, Wachtürme, Eisenbahngleise, …), können zwar Assoziationen wecken, aber nicht das nötige Wissen über den jeweiligen Ort ersetzen. Diese unmittelbare Wirkung eines Denkmals oder einer Gedenkanlage, anders gesagt: die künstlerische und ästhetische Dimension, ist nicht nur als Impuls für die Betrachtenden von Bedeutung, sondern ist mit einem eigenen Informationsgehalt verbunden, der im (unerreichbaren) Idealfall von Kontext und Vorwissen unabhängig wäre – ein solches Denkmal spräche für sich selbst. Obwohl der Anstoß für ein Denkmal bzw. einen Gedenkort in der Regel mit dem Bedürfnis nach einer überzeitlichen, verewigten Botschaft verbunden ist, wird auch ein solcher Gedenkort schnell Teil historischer Prozesse und Auseinandersetzungen. Vor allem in der Nachkriegszeit drehten sich die Debatten bei der Gestaltung der Gedenkstätten um den Erhalt der Spuren und „authentischen“ Relikte. Während anfangs die Demontage der Lagerarchitektur zum Teil ‚praktischen‘ Erwägungen geschuldet war (z. B. Materialgewinnung), zielten andere Rückbaumaßnahmen darauf ab, den Ort ‚angemessen‘ zu gestalten. Der Entwurf für die Neugestaltung der ersten bayerischen KZ-Gedenkstätte Flossenbürg sah beispielsweise 1955 vor, dass „Hinterbliebene und Besucher […] eine friedliche, gewaltlose Stätte vorfinden, die mit Überlegung aber unaufdringlich geplant, liebevoll gepflegt ist und die Erinnerung an das Gewesene mildert.“ Der Gedenkort Auschwitz-Birkenau in Polen wurde dagegen bereits früh zum Symbol für die Verbrechen der Nazis, deren Spuren man bewahren bzw. rekonstruieren wollte. In Majdanek, der ersten NS-Gedenkstätte, begann man ebenfalls nach einigen Jahren mit dem Aufbau rekonstruierter Baracken und Gebäude, die dem ursprünglichen Zustand möglichst nahe kommen sollten. Eine solche Zielstellung ist, unabhängig von der Frage, ob sich ein solcher Ort der Gewalt und des Sterbens in einer anderen Zeit authentisch rekonstruieren lässt, auch mit der Frage konfrontiert, welcher Zustand eigentlich verewigt werden sollte, da bereits die Lager und Tötungsorte der Nationalsozialisten einem ständigen Wandel unterlagen. Was für die Rekonstruktion der Lager mit Blick auf die Vergangenheit gilt, trifft für die Gedenkarchitektur mit Blick auf die Zukunft zu: Ein Denkmal ist in Stein gemeißelte Erinnerung, die meist mehr über die Erinnernden als über das erinnerte Ereignis aussagt. Beides reflektierte bereits Oskar Hansen 1957 in seinem Entwurf Droga (Die Straße) bei der internationalen Ausschreibung für ein Mahnmal in Auschwitz-Birkenau. Auf einem 70 m breiten, schwarz gepflasterten Streifen, der von den Krematorien bis zum Zaun quer durch das ehemalige Lagergelände führte, sollten alle Gebäude, Ruinen und Spuren dauerhaft erhalten werden, während jenseits der „Straße“ das Gelände der zeitlichen Vergänglichkeit überantwortet werden sollte. Trotz einstimmiger Wertung der Jury für Hansen wurde der Entwurf nicht verwirklicht – offiziell, weil er nicht mit den polnischen Gesetzen zum Erhalt des Ortes vereinbar war, inoffiziell wegen starker Widerstände in den Opfer- und Überlebendenverbänden. Vergleichbare Entwürfe für ‚Gegendenkmäler‘ wurden auch in den 60er Jahren bei einer Ausschreibung in Majdanek eingereicht.

Gedenkstätte Treblinka mit symbolischem Verbrennungsort und zentralem Monument mit Menora im Hintergrund, © Adrian Grycuk (CC Attribution-Share Alike 3.0 Poland)

In der Erinnerung deutlich weniger präsent waren die Vernichtungslager der Aktion Reinhard in Bełżec, Sobibór und Treblinka. Hier hatten die Deutschen bereits lange vor Kriegsende alle Spuren beseitigt und nur wenige Dutzend Gefangene überlebten die Lager, in Bełżec vermutlich nur drei. Während in Treblinka bereits 1955 die Errichtung eines Mahnmals beschlossen wurde, waren es im Fall von Bełżec und Sobibór die in der BRD und der Sowjetunion in den 60er Jahren geführten Prozesse, die den Anstoß in Polen dazu gaben, an den Orten der Massenvernichtung Denkmäler zu errichten. Im Gegensatz zu Auschwitz oder Majdanek gab es hier praktisch keine Relikte, die bewahrt hätten werden können. So erfolgte die Gestaltung dieser Orte zwangsläufig eher abstrakt, wobei wie bei zahlreichen vergleichbaren Denkmälern in Polen christliche, polnisch-nationale und zeitgemäß-sozialistische Elemente dominierten. Eine Ausnahme bildet Treblinka, wo mit 17.000 Steinen an die Ermordeten und mit dem Relief einer Menora deutlich an die Herkunft der Opfer erinnert wurde – und nach wie vor wird. Hier blieb die Gestaltung des Ortes im Gegensatz zu Bełżec und Sobibór bis heute grundsätzlich erhalten. Die dortigen Mahnmale, die dagegen bereits deutlich durch die politischen Zuspitzungen in der zweiten Hälfte der 60er Jahre geprägt waren, die in der antisemitischen Märzkampagne 1968 gipfelten, sind mittlerweile vollständig verschwunden bzw. „überarbeitet“ worden. Mit dieser Umgestaltung entstand eine völlig neue Form von Shoah-Gedenkstätten. Im Mittelpunkt steht jetzt der dauerhafte Schutz der Massengräber, während die (abstrakte) Rekonstruktion des Ortes nachgeordnet wird. Optisch dominieren die großen Gräberfelder – in Bełżec schwarz, in Sobibór weiß – sowie die blickführenden Achsen, die sich grob am (vermuteten) Weg der Opfer zur Gaskammer orientieren. Der internationale Einfluss der Architektur von Gegendenkmälern (z. B. Eisenmann, Libeskind) wird hier ebenso deutlich wie die Bezüge zu Hansens Droga. Die in Bełżec allen Abstraktionen zum Trotz noch sehr eindeutige Symbolik (Rampe, Stacheldraht, Davidstern, Weg zur Gaskammer, Flammen) wurde in Sobibór noch einmal wesentlich reduziert. An beiden Orten ist die Architektur der zugehörigen Museen betont unauffällig gehalten, in Bełżec verschwindet das Museum geradezu am Rand. Das Wissen, das über den Ort erworben werden kann, soll nicht bei der Wahrnehmung stören; es handelt sich um ein ergänzendes Angebot. Hinweisschilder und erklärende Tafeln sind innerhalb des klar abgegrenzten Gedenkbereichs nicht zu finden. Die Gedenkarchitektur tendiert damit zu einem überwältigenden, totalen Eindruck. Eine derartige Gestaltung wäre an vielen Orten restaurierter bzw. rekonstruierter Konzentrations- und Vernichtungslager undenkbar und würde wahrscheinlich auf große Widerstände stoßen. Dennoch erfüllen die Gedenkstätten in Bełżec und Sobibór alle wesentlichen Aufgaben, die heute von NS-Gedenkstätten erwartet werden. Nur der oft geforderte Erhalt des „authentischen“ (Tat-)Orts war aufgrund der Vertuschungen der Täter und der anschließenden jahrzehntelangen Vernachlässigung kaum möglich. Angesichts der grundsätzlichen Unmöglichkeit, den Massenmord der Shoah erfahrbar zu rekonstruieren, könnten beide Orte beispielhaft für künftige Tendenzen in der Gestaltung von Shoah-Gedenkstätten stehen.

Gedenkstätte in Bełżec (2015)

Eine dauerhafte Leerstelle

Die Shoah wird in Kürze mit dem Tod der letzten Zeugen und Überlebenden nicht mehr Gegenstand zeitgeschichtlicher Forschung sein. Viele Spuren und Zeugnisse werden aufwändig rekonstruiert und erhalten, um dem Bedürfnis nach ‚Authentizität‘ entgegenzukommen, also letztendlich, um die Vergangenheit auch für heutige Gedenkstättenbesucher weiter scheinbar greifbar zu machen und die Jahrzehnte, die zwischen dem erinnerten Geschehen und unserer Gegenwart liegen, zu überbrücken. Als Erlebnis und Erfahrung droht der Besuch einer Gedenkstätte immer auch zur konsumierbaren Ware zu werden, selbst wenn keine Eintrittsgelder fällig werden. Im Sinn des ‚Dark Tourism‘ werden Orte wie Auschwitz zur Geisterbahn der Geschichte, die die Besucher mit einem Schauder umgeben und mit sicherem Abstand vermeintlich existenzielle Erfahrungen ermöglichen. Asche, Knochen und Krematorien bieten zwar Schock-Momente, aber tragen kaum dazu bei, die Shoah besser zu verstehen, ebenso wenig wie eine rekonstruierte Gaskammer. Die detaillierte Nachbildung der Lagerarchitektur suggeriert eine originalgetreue Darstellung der historischen Wirklichkeit. Tatsächlich folgt jede Gedenkstätte immer einer Narration, die sich nicht nur aus dem Erhalt bzw. Nichterhalt oder der Rekonstruktion bestimmter Strukturen sowie aus der Gedenkarchitektur (die auch wieder entweder selbstreflexiv oder eben ‚zeitlos‘ sein kann) ergibt, sondern auch aus der Anordnung und der chronologischen Erfahrung durch die Besucher. In Deutschland wurden immer wieder Debatten geführt, welche Form der Gestaltung oder Rekonstruktion angemessen sei, ob die KZ-Gedenkstätten in erster Linie Beweisfunktion haben und ob sich die Massenmorde der Nazis und die Shoah überhaupt darstellen ließen. Auch die Auseinandersetzungen um das Berliner Holocaust-Mahnmal sind in diesem Zusammenhang zu verstehen, da es doch seine Bedeutung vor allem daraus gewinnt, keinen Tatort zu markieren, und so eine Form von Erinnerung zulässt, die die konservierten oder rekonstruierten Lager kaum leisten können. Dort, wo nicht mehr unmittelbar die Raumgestaltung der Täter im Fokus steht, kann auch vielleicht die Historisierung der Shoah verhindert werden. Statt eines Freilichtmuseums, das die konkreten Einzelheiten der vor Ort begangenen Verbrechen nachvollziehbar machen soll, stellt ein Mahnmal bzw. die Gedenkarchitektur den Akt des Erinnerns in den Mittelpunkt und bietet damit die Möglichkeit, einen dauerhaften Gegenwartsbezug herzustellen – vorausgesetzt, das Denkmal fällt nicht selbst der Historisierung anheim. Ausgehend von der Annahme, dass sich die Shoah selbst niemals bildlich-konkret vergegenwärtigen lässt, aber als potenzieller Abgrund einer Gesellschaft, die sich ihrer Grundlagen nicht bewusst ist, weiterhin fortbesteht und (nicht nur deshalb) der lebendigen Erinnerung bedarf, will ich abschließend einige Thesen zur Zukunft der Shoah-Gedenkstätten formulieren.

Die Gestaltung von Gedenkstätten ist als materielle Erfahrung entscheidend, um eine Auseinandersetzung anzustoßen. Ist dazu der Erhalt oder die Rekonstruktion historischer Spuren nötig? Jede Form eingreifender Gestaltung führt bereits zu der Problematik, nicht nur welche Kunst nach Auschwitz überhaupt noch möglich ist, sondern auch, wie eine ästhetische Sinnstiftung der Shoah vermieden werden kann. Doch selbst das ursprüngliche Belassen bzw. die Konservierung des historischen Ortes führt zum gleichen Prozess der Bedeutungszuschreibung durch die Besucher, wie es im anderen Fall durch Künstler und Architekten als vermittelnde Instanzen geschieht. Jede Form des Umgangs mit den Orten der NS-Verbrechen läuft auf Entscheidungen hinaus, die die Wahrnehmung der Betrachtenden beeinflussen und in der Regel gezielt reflektive Prozesse auslösen sollen. Information und Bildung lassen sich von den Orten dagegen nicht ersetzen, sondern nur mit der Hilfe von Museen und Ausstellungen ergänzen. Der Gestaltung der Gedenkorte kommt daher in erster Linie die bereits angedeutete Impulsfunktion zu. Auch wenn ein solcher Impuls auf eine materielle Erfahrbarkeit angewiesen ist (je mehr Sinne angesprochen werden, desto stärker der kognitive Effekt), funktioniert er auch völlig ohne ein ‚authentisches‘ Zeugnis wie Baracken, Gaskammer oder Krematorium. Entscheidend ist das Erkennen, sich an einer Grabstätte zu befinden. Auf diese Weise stehen zunächst nicht konkrete Gewalttaten der Täter im Vordergrund, sondern die ermordeten Opfer, die immer auch an die eigene Verletzlichkeit und Sterblichkeit erinnern. Diese Konfrontation kann zwar nicht nur Interesse, sondern auch Verdrängung auslösen, doch schränkt sie einen instrumentalisierten Zugang zum Gedenkort (zum Beispiel in Form von Grauenstourismus) ein. Die durch die abstrakte Gestaltung bestehende Gefahr der Ästhetisierung und ‚Instagrammability‘ lässt sich jedoch nicht verhindern, ich würde sie aber der konkreten Repräsentation der Shoah und ihrer vermeintlich authentischen Erfahrung dennoch vorziehen.
Eine abstrakte Gestaltung von Shoah-Gedenkstätten, wie sie teilweise bereits in Bełżec und noch stärker in Sobibór umgesetzt wurde, weist auch darauf hin, dass die NS-Gedenkstätten heute kaum noch über die oft postulierte Beweisfunktion verfügen. Viele Orte sind genauestens untersucht und die Detailfragen sind für die Rekonstruktion und Bewertung der Verbrechen und Geschehen unerheblich. Mit den Details beschäftigen sich besonders Holocaustleugner oft, um die Tatsache der Massenvernichtung insgesamt infrage zu stellen. Vor der Errichtung des neuen Mahnmals in Bełżec, das in Form einer Nekropole alle Massengräber umfasst und schützt, wurde das gesamte Gelände archäologisch untersucht. Natürlich heißt das nicht, dass mit neuen Forschungsleitfragen bei künftigen Untersuchungen nicht auch neue Ergebnisse möglich sind, doch der Tatort und die Tatsache des Verbrechens selbst sind sehr gut dokumentiert und belegt. Holocaustleugner, die in aller Regel entweder nationalen Mythen und/oder antisemitischen Verschwörungserzählungen anhängen, wären auch durch die Asche der Ermordeten kaum zu überzeugen. Aus wissenschaftlichen Gründen (und eben weniger aus didaktischen Motiven) heraus sollten erhaltene Spuren zwar bewahrt werden, doch sind darüber hinaus jegliche Rekonstruktionen, ob detailnah oder symbolisch, überflüssig und berühren eher die Frage nach der Möglichkeit, die Shoah zu repräsentieren, als das Geschehene nachvollziehbar zu machen oder gar zu beweisen.
Weiterhin spricht für eine eher abstrakte Denkmal- und Gedenkstättengestaltung an den Orten der Shoah die Unmöglichkeit der Darstellbarkeit des Massenmordes sowie die Vermeidung, aus dieser (symbolischen) Sinn zu pressen. Das viel diskutierte „Bilderverbot“, das exemplarisch in Claude Lanzmanns Dokumentation Shoah seinen Ausdruck findet, weist auf diese Problematik und die Fallstricke vermeintlich realistischer Darstellungen hin. Aber auch die totale Ästhetik der Abstraktion kann nicht die Konsumierbarkeit von Vergangenheit und deren räumlicher Erinnerung verhindern, im Gegenteil, sie macht erst den Raum als Ganzes erfahrbar und überdeterminiert damit auch den Massenmord selbst. Dennoch verhindert sie konkrete Sinnstiftungen und ohne einen (letztlich immer auch ästhetischen) Impuls lässt sich keine Verbindung zum Betrachter herstellen und zu weiterer Auseinandersetzung anregen. Eine Anleitung zur Erinnerung kann es aber nicht geben. Es bleibt einzig, das Erinnern auch durch Diskussionen und Neugestaltungen über eine bloße Ritualisierung hinaus (so hilfreich eine solche auch sein kann) zu erhalten. Die Stimme des Individuums muss dabei deutlich zu vernehmen sein, ohne dass sie objektiviert zu sich zurückkehrt. Die Gedenkstättenarchitektur kann hier nur den Anstoß für diese nie unnötig werdende Reflexionsarbeit geben; alle konkrete inhaltliche Auseinandersetzung ist Informationsarbeit, die räumlich getrennt geleistet werden muss. Die Möglichkeit räumlicher Vereinzelung könnte bei einer wirkungsvollen Gestaltung genauso eine Rolle spielen wie die Kontrastierung der eigenen Person mit dem Verlust.
So wie Abstraktion durch ihre unmittelbare Erfahrbarkeit tendenziell Erzählungen keinen Raum mehr bietet, kann die Leerstelle der Judenvernichtung nur durch eine Universalisierung der Erinnerung, in der nationale Mythen keinen Platz haben, dauerhaft sichtbar gemacht werden. Mit dieser Forderung möchte ich also nicht der oft beschworenen ‚Universalisierung des Holocaust‘ im Sinn einer weltweit geteilten Opfererfahrung das Wort reden, die die Shoah in eine globale Geschichte von Leid und Gewalt einreiht. Vielmehr begreife ich die Shoah als Massenvernichtung, die auf die Idee der Menschheit selbst abzielte. Die Vernichtung der Juden sollte so global erfolgen, wie die Juden seit der Diaspora verstreut waren. An ihnen wollten sich die Deutschen und Millionen andere Antisemiten die nicht erfüllten Ideale des Bürgertums mit seinem universalistischen Anspruch selbst austreiben. Das Gedenken muss daher global angelegt sein, auch aus der Erkenntnis heraus, wie sehr im aufklärerischen Weltbild und Fortschrittsoptimismus die Möglichkeit dessen völliger Verkehrung gegen die Menschen, und zwar potentiell gegen jeden einzelnen Menschen, angelegt ist. Die einzige Ausnahme bildet hier Israel, in dem ein universalistischer Blick auf die Shoah kaum möglich ist. Für Yad Vashem wäre eine derartige Prämisse völlig ungeeignet, stattdessen kommt der dort dominierende demokratische Eklektizismus der Gedenkarchitekturen und Inhalte einem lebendigen Gedenken, das von der gesamten Gesellschaft getragen wird, entgegen. Hier liegt der Fokus klar auf den Opfern und schließlich auch auf der von den Tätern aufgezwungenen Gemeinschaft, die den jüdischen Staat so notwendig macht.
Letztlich wird die Frage des richtigen Ansatzes sowohl in der Gestaltung als auch in der Bildungsarbeit nie abschließend zu beurteilen sein, allein schon weil sich Menschen als Adressaten der Gedenkstätten, ihre Kultur und ihre Formen des Zusammenlebens zu schnell ändern, als dass sich hier eine allgemeingültige Antwort finden ließe. Entscheidend ist aber die Suche nach dieser als ein gezielter Prozess. Ein globaler Gedenkansatz muss nicht in Stein gegossen sein und kann seinen Zeitkern bewusst reflektieren, aber trotzdem eine beliebige Aneignung der Shoah, die deren Besonderheiten zwangsläufig nicht fassen kann, vermeiden. Es ist extrem schwierig dabei, auf den Zusammenhang einer Gesellschaft, die vom Menschen abstrahiert und jedes Begreifen gesellschaftlicher Verhältnisse mit dem Dogma „totalitär“ bedroht und damit auch implizit mit dem Nationalsozialismus und der Massenvernichtung gleichsetzt, hinzuweisen, ohne sich nicht gleichzeitig der Gefahr auszusetzen, den Zugang zum Geschehen durch ein geschlossenes Deutungsangebot einzuschränken, aber die Erinnerung an die Opfer und die Sichtbarmachung ihrer Abwesenheit darf weder zeitpolitischen Erwägungen untergeordnet, noch einer jüngeren Vergangenheit nachgeordnet werden.
Deutschland als Nachfolgegesellschaft der Täter ist hier sicher auch noch mal ein Sonderfall. Eine nationale Erinnerungskultur, so reumütig und verantwortungsbewusst sie auch sein mag, stärkt immer das nationale Narrativ, auch als „Erinnerungsweltmeister“. Genauso könnte eine Eingliederung in einen universalistischen Gedenkansatz aber zu einer Abwehr von Verantwortung und Schuld beitragen, indem die nationalsozialistische Vergangenheit ausschließlich als globaler Unfall betrachtet wird, der wenig oder nichts mit der deutschen Geschichte zu tun hat. Allein schon aus diesem Grund sollte die Gestaltung und die Bildungsarbeit von NS-Gedenkstätten in Deutschland weiterhin kontrovers diskutiert werden, um jede Form von Vereinnahmung zu verhindern. Ob in Deutschland oder anderswo, institutionalisierte Erinnerung ist schließlich auch Teil unserer komplexen, arbeitsteiligen Gesellschaft, die Gedenkstätten und Denkmäler erst ökonomisch möglich gemacht hat. Sie hängt daher stark von den wirtschaftlichen Möglichkeiten einer Gesellschaft sowie deren Zugeständnissen und Prioritäten ab. Erinnerung ist an Bewusstwerdung geknüpft. Gesellschaftliche Gewaltverhältnisse und die damit einhergehenden Zwänge für den Einzelnen werden aber, individuell und kollektiv, verdrängt, genauso wie alle Ereignisse und Erfahrungen, die an diese Zusammenhänge erinnern. Daher gehört zu den grundlegenden aktuellen Aufgaben die Eingliederung der Shoah ins kollektive Gedächtnis, damit sich etwas ähnliches nicht wiederholen kann. Auch angesichts aller gegenwärtigen und vergangenen Massenmorde verliert diese Forderung nicht an Berechtigung, im Gegenteil. Zumindest solange die gesellschaftlichen Grundlagen, die Auschwitz möglich gemacht haben, fortbestehen, sollten die Shoah-Gedenkstätten eine besondere Rolle in einer möglichst globalen Erinnerungskultur spielen.

16 Nov

„Bilder finden“ – zum 75. Todestag von Bruno Schulz

Als die Deutschen alle Jüdinnen und Juden Europas ermorden und die Erinnerung an sie für immer aus unserer Welt tilgen wollten, endeten Millionen menschlicher Schicksale binnen kürzester Zeit in den Massengräbern Mittel- und Osteuropas. Mit ihnen starb auch die Hoffnung, welche die Antisemiten zuerst sich und dann auch den mit einem irdischen messianischen Erlösungsgedanken identifizierten Juden stellvertretend für alle Menschen mit Gewalt austrieben. Die einzelnen Schicksale dem Vergessen zu entreißen, wird mit der zeitlichen Entfernung immer schwieriger. Und der Schnitt in der Geschichte, so man mit dieser einen Hoffnungsgedanken verbindet oder verband, ist unheilbar. Die nie mehr aufzuholende Suche nach dem Entrissenen und verloren Gegangenen, auch wenn ihr oft der Missbrauch des Trostes oder gar der erlösenden Überwindung anhaftet, verhindert das Abdecken einer Wunde, deren Ursachen fortbestehen.

Zwei dieser Suchenden waren Benjamin und Christian Geissler; der, den sie (wieder) fanden, Bruno Schulz. Dieser im deutschsprachigen Raum immer noch kaum bekannte polnischsprachige jüdische Schriftsteller und Maler hatte trotz der kurzen Aufmerksamkeitsspanne, die ihm zuteil wurde, einen großen Einfluss auf die polnische Literatur des 20. Jahrhunderts. Mit „Sklepy Cynamonowe“ („Die Zimtläden“) und „Sanatorium pod Klepsydrą“ („Das Sanatorium zur Sanduhr“) gelang dem poetischen Erzähler, der die Alltäglichkeit der Kleinstadt in magischen Bildern auflöste und den um Sinn und Bedeutung ringenden einzelnen Menschen in einer mythischen Ausweglosigkeit beschrieb, der Durchbruch. Schnell begann man, ihn mit Franz Kafka zu vergleichen. Im deutschsprachigen Raum wird er heute nicht selten als „polnischer Kafka“ bezeichnet, wohl auch, weil die autobiographisch geprägten Erzählungen des introvertierten Außenseiters oft hermetisch geschlossen wirken.

Gedenktafel an Bruno Schulz an dessen Geburtshaus in Drohobycz (© J. Naus)

Während Schulz zumindest in Polen nach dem Zweiten Weltkrieg schnell wiederentdeckt wurde, gab in Deutschland 2002 der Dokumentarfilm „Bilder finden“ von Benjamin Geissler einen kleinen Anstoß, den Schriftsteller in Deutschland bekannter zu machen. Nachdem die Deutschen die Heimatstadt Schulz‘, Drohobycz, einnahmen und vor allem den großen jüdischen Bevölkerungsanteil der Stadt terrorisierten und nach kurzer Zeit systematisch zu ermorden begannen, stellte der SS-Hauptscharführer Felix Landau Schulz unter seinen persönlichen Schutz, damit dieser für ihn als Auftragskünstler arbeite. Die Wandgemälde, die Schulz für Landau in der von diesem bezogenen Villa anfertigen musste, waren, trotz der intensiven Suche vor allem durch polnische Forscher, lange Zeit nicht auffindbar. Benjamin Geissler und dessen Vater Christian gelingt es schließlich mit Hilfe aus der örtlichen Bevölkerung, die Fresken 2001 aufzuspüren – in einer Abstellkammer. Die Folge sind Freudentränen, eine polnische Expertenkommission, das behutsame Abtragen der darüber liegenden Wandfarbe und schließlich eine fast als Kunstraub zu bezeichnende Geheimaktion Yad Vashems, deren Mitarbeiter nach finanzieller Überzeugung der Gebäudeeigentümer einen Teil der Fresken aus der Wand schneiden und nach Israel bringen.

Auch wenn der Film mit zahlreichen Zitaten Schulz‘ und Überblenden seiner Bilder und Zeichnungen geschmückt ist, erweckt er eher den Eindruck einer Metadokumentation – vielleicht auch angesichts der Unmöglichkeit, ihm und der untergegangenen Welt, die ihn hervorbrachte, habhaft zu werden. Die Suche wird zum Ziel und erinnert immer auch an die ihr innewohnende Vergeblichkeit. Die wenigen Alten, die noch zur Drohobyczer jüdischen Gemeinde heute gehören und neben Polnisch, Jiddisch und Ukrainisch häufig auch Deutsch sprechen, können als Überlebende der Shoah bei der Suche helfen, aber kaum noch Hoffnung machen auf einen Erhalt geschweige denn auf ein Wiederaufleben der jüdischen Kultur wie auch der mit dieser so verbundenen Multikulturalität Ostmitteleuropas. Was soll man auch erwarten, wenn der Funke dieser Hoffnung in Gestalt unter ständiger Todesbedrohung auf Befehl der Nazis angefertigter Auftragskunstwerke besteht? Dass die kleinen jüdischen Gemeinden in Drohobycz und Lemberg (Lviv, früher Lwów) mit ihrer Hoffnung nach internationaler Unterstützung ziemlich schnell vor einem fast wörtlichen Scherbenhaufen standen, führt schließlich auch den Zuschauer wieder auf den Boden der europäischen Realität des 21. Jahrhunderts zurück. Trotzdem trägt der Film dazu bei, Spuren zu bewahren, Erinnerungen ins kulturelle Gedächtnis einfließen zu lassen und letztlich vor allem, Bruno Schulz ein bisschen bekannter zu machen. In den letzten Jahren entstanden neue Übersetzungen seiner Werke und auf der Documenta 2017 in Kassel waren jene Fresken, die nicht nach Yad Vashem gebracht wurden, zu sehen. Ungleich interessantere Zeichnungen Schulz‘ aus den 30er Jahren und der Zeit der deutschen Besatzung findet man heute dagegen eng beieinander in den kleinen Räumen des „Bruno-Schulz-Museums“ im ehemaligen Drohobyczer Gymnasium ausgestellt.

Restaurierte Synagoge in Drohobycz – früher die größte Synagoge Polens

Am 19. November 2017 jährt sich der Todestag von Bruno Schulz zum 75. Mal. Am „wilden Donnerstag“, an dem SS-Männer 1942 wahllos hunderte Jüdinnen und Juden in ganz Drohobycz auf offener Straße ermordeten, wurde Schulz von dem mit Landau verfeindeten SS-Mann Karl Günther erschossen. Landau habe zuvor dessen jüdischen Leibzahnarzt erschossen und so kommentierte Günther die Ermordung Schulz‘: „Du tötetest meinen Juden – ich tötete deinen.“

75 Jahre später werden in ganz Deutschland 100 Kinos die Dokumentation Geisslers zeigen. Eines von ihnen ist das Kino in der Fabrik in Dresden. Am Sonntag, dem 19.11., ist „Bilder suchen“ dort um 12.00 zu sehen. Nicht nur wegen der schweren Verfügbarkeit und geringen Bekanntheit des Films lohnt sich der Besuch.

10 Aug

In Tracht für Europa: Das „Folkowisko“ in Gorajec

Marcin Piotrowski mit der ungarischen Folk-Punk-Band Bohemian Betyars auf dem Folkowisko 2015 (© Stowarzyszenie Folkowisko)

Kurz vor Mitternacht ruft Marcin Piotrowski, 33-jähriger Familienvater und einer der Mitbegründer des Folkfestivals Folkowisko mit einem Megafon zur Polonaise auf. Hunderte Menschen finden sich spontan in Paaren zusammen, um gemeinsam eine komplizierte Choreografie zu tanzen. Hier hat die Polonaise nichts mit der germanisierten Karnevalsversion von Gottlieb Wendehals gemein. Viele Teilnehmer tragen Blusen, Hemden, Westen und Kleider, wie sie vor hundert Jahren bei der hiesigen Landbevölkerung üblich waren. Nach Abschluss der Zeremonie mit ihren vielen Paraden, Reihen, Kreisen und Brücken stimmt Marcin noch einmal ein schallendes „Hip Hip“ an und die Menge wird ihm dreimal mit „Hurra“ antworten. Danach wird es langsam ruhig auf den Wiesen rund um den „Chutor Gorajec“. Kleine Gruppen sitzen noch bis zum frühen Morgen um Feuerstellen und singen Volkslieder, vor allem auf polnisch und ukrainisch, aber auch auf jiddisch, russisch oder englisch. Manchmal wird die Ruhe durch einen Knall der Selbstschussanlage gegen Wildschweine gestört, aber die fast vollkommene Dunkelheit dieser Sternennacht verschlingt jede mögliche Aufregung bereits in der darauf folgenden Sekunde. Gorajec liegt im größten Waldgebiet Polens, der Landschaft „Roztocze“ und die nächsten größeren Städte sind dutzende Kilometer entfernt. Drei Kilometer sind es bis zur nächsten Bushaltestelle – wenn man den Feldweg nimmt. Zu kaufen gibt es hier nur Selbstgebrannten („bimber“) und ukrainische Zigaretten bei einer alten Bauernfamilie.

Man kann das Festival auch in seiner sechsten Auflage noch als Geheimtipp bezeichnen. Seit 2011 kommen jedes Jahr einige hundert Menschen zusammen, um im ostpolnischen Nirgendwo gemeinsam zu feiern. Wo sich einst polnische, ukrainische, jüdische und auch deutsche Geschichte kreuzten, scheinen sie zeigen zu wollen, dass es noch das wahre, das multiethnische Europa gibt. Mit ukrainischen Instrumentenbauern, Tänzen polnischer Roma, national und international bekannten Folk-Bands sowie freiwilligen Helfern aus aller Welt begeistert das Festival vor allem polnische Studierende aus den Großstädten. Für ein paar Tage im Juli drehen sie mit Sehnsucht am Rad der Geschichte. Dabei flechten sie sich gegenseitig Blumen ins Haar, bringen sich alte Volkstänze bei oder finden sich spontan zum Musizieren zusammen.

Auch ein Festival für Kinder (© Stowarzyszenie Folkowisko)

Jakób sitzt in der Mittagshitze im Schatten und spielt das Zymbal. Im Halbkreis sitzen viele Menschen, noch müde von der letzten Nacht, und lauschen. Ob Zymbal, galizische Dudelsäcke oder Drehleier: Viele der hier gespielten Instrumente bekommt man nur selten außerhalb von Museen zu Gesicht. Später liefern sich, unter der Aufsicht Marcins mit seinem Megaphon, dreißig Kinder eine Wasserbombenschlacht. Viele Familien sind mit ihren Kindern angereist. Neben Holzikonen, Stickereien und riesigen Scherenschnitten werden auch Holzspielzeug und Kinderschmuck angeboten. Abends sitzen dann viele Kinder direkt auf der Bühne und schauen großäugig aus nächster Nähe den Bands beim Spielen zu. Wie in vielen anderen Ländern ist es auch in Polen nicht ungewöhnlich, dass alle Generationen zusammen feiern. So gehören neben Folkrock-Bands auch Seniorenchöre und Trachtenkapellen zum Programm des Festivals. Niemand findet diese Mischung hier seltsam. Zum Projekt der kulturellen Vielfalt gehört auch das Miteinander aller Generationen. Dennoch geht es hier sehr subkulturell zu. Wer länger auf dem polnischen Land gelebt hat, wird einen solchen Ort mit praktizierter Mülltrennung, veganen Essständen und Besuchern mit Dreadlocks und Piercings ebenfalls bemerkenswert finden. Und trotzdem gelingt es den Organisatoren mittlerweile, auch hunderte Einheimische aus den umliegenden Dörfern auf das Festival zu locken. Dies ist nicht nur wegen des Charakters des Festivals keineswegs selbstverständlich. Auch der Versuch Marcins und seiner Mitstreiter, mit dem Folkowisko die Geschichte des Dorfs und der Region wiederbeleben zu wollen, reißt alte Gräben wieder auf.

Ein verdrängtes Dorf

 

Lachend steht Wojtek, der schon seit Jahren als Audiotechniker auf dem Festival arbeitet, im Schlafsaal der Herberge. Er hat einen alten Karabiner von der Wand genommen und sich einen Helm der roten Armee aufgesetzt. Mir drückt er den deutschen Stahlhelm in die Hand, mit Einschussloch. „Los, setz ihn auf!“ 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs bringe ich es trotzdem nicht fertig, ihm den Gefallen zu tun. Zu viele Sprüche musste ich mir schon in Polen anhören. Ich stehe zu meinem „deutschen Komplex“, der mir von vielen Polen bescheinigt wird. Die Piotrowskis haben noch mehr Artefakte aus der Kriegszeit in der Gegend gefunden. Von den deutschen Behörden ausgestellte Dokumente oder ein Schild, das vor der nach 1939 gezogenen Grenze zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion warnt, zum Beispiel. Gorajec steht stellvertretend für die blutige Geschichte des 20. Jahrhunderts in Osteuropa.

Am Rand des damaligen Habsburgerreiches gelegen, gehörte Gorajec bis 1918 einer polonisierten jüdischen Familie, die das Dorf nach der Annektierung Galiziens durch Österreich erwarb. Das Anwesen der Brunickis (einst Brunstein) fiel der Artillerie im ersten Weltkrieg zum Opfer. Kurz vor dem zweiten Weltkrieg zählte das zu jener Zeit größtenteils ukrainisch bewohnte Dorf 1300 Einwohner. 1941 überschritten die Deutschen ihre mit der Sowjetunion gezogene Demarkationslinie unmittelbar hinter dem Dorf. Während die Deutschen im Osten mit ihrem Vernichtungskrieg beschäftigt waren, fachten ukrainische Nationalisten im so entstandenen Machtvakuum einen grausamen Bürgerkrieg an. Ganze Dörfer wurden ausgerottet und zogen zahlreiche, kaum weniger grausame Racheaktionen polnischer Partisanen gegen ukrainische Ortschaften nach sich. Am 6. April 1945, viele Monate nach dem Ende der Kriegshandlungen in diesem Gebiet, umstellte der militärische Arm des Staatsicherheitsdienstes der neuen Volksrepublik Polen das Dorf. Ziel war es, die hier vermuteten militärischen Strukturen Ukrainischer Nationalisten zu zerstören. Als sie keinen einzigen Kämpfer der UPA (Ukrainische Aufständische Armee) antrafen, ermordeten sie alle noch übrigen Bewohner des Dorfes, darunter dutzende Kinder. Über 150 Menschen fanden so den Tod. Aus den Kriegswirren zurückgekehrte Ukrainer wurden schließlich bei der „Aktion Weichsel“ 1947 entweder gezwungen in die Sowjetunion auszuwandern oder sich in den neuen polnischen Westgebieten anzusiedeln. Heute zählt Gorajec offiziell 140 Einwohner, aber nur die Hälfte wohnt auf dem Gebiet des größtenteils zerstörten Dorfs. Ein großer Teil wohnt in einer viel später errichteten, zwei Kilometer entfernten Siedlung. Dörfer in Osteuropa erzählen oft ganz andere Geschichten als tausend Jahre alte Weiler in Hessen oder Bayern. Und genau solche „Geschichten“ sind es, die die heutigen Bewohner des Dorfes und der Umgebung misstrauisch gegenüber der Initiative der Piotrowskis stimmen.

Cerkiew in Gorajec (© Stowarzyszenie Folkowisko)

Lange erinnerten an diese Geschichte nur überwucherte Grabsteine mit kyrillischen Inschriften im Wald und die ehemals griechisch-katholische Holzkirche – die älteste ihrer Art in Polen. Erst 2010 wurde von ukrainischen und polnischen Vertretern gemeinsam ein Denkmal eingeweiht. Wie einige wenige neue Gräber, die in den letzten Jahren auf dem wieder freigelegten Friedhof angelegt wurden, wirkt das Denkmal seltsam fremd. In dunkel glänzendem Stein sind hier die Namen aller Opfer des Massakers eingraviert. Der Friedhof wird überwiegend heute durch Freiwillige aus der Ukraine instand gehalten. Sie graben auch regelmäßig weitere Grabsteine, meist in Form massiver Kreuze, aus und restaurieren sie. Auch die Treffen mit den Jugendlichen und Studenten aus der Westukraine wurden maßgeblich vom Verein des Festivals initiiert. Besonders wegen solcher Aktivitäten stießen die Piotrowskis in der Region lange Zeit auf Ablehnung, wie Marcin erzählt. „Man hielt uns und das Festival für ukrainisch. Sogar die lokalen Zeitungen schrieben das.“ Und „ukrainisch“, das bedeutet für die meisten Menschen hier UPA und Massaker. Ein differenzierter Blick auf die Vergangenheit ist verdächtig. Gerade in Osteuropa ist es, vom deutschen Vernichtungskrieg abgesehen, schwierig, die Frontlinien, entlang derer sich die ethnische Homogenisierung vollzog, eindeutig zu kennzeichnen. Vergessen werden darf auch nicht, dass ein großer Teil des heutigen Polens auf die eine oder andere Weise von den massiven Bevölkerungsverschiebungen, Massenmorden, Vertreibungen und nicht zuletzt der Shoah betroffen war. Vielleicht war es auch eine Frage der Identität, auf diesen Trümmern ein neues Gemeinwesen aufzubauen. Und so hat sich bis 2006, bis die Piotrowskis kamen, niemand aus dem Dorf für den überwucherten Friedhof im Wald oder das Massengrab interessiert. Wenn man an die unzähligen Geschichtsvereine in Polen denkt, kann dieses Desinteresse schon etwas verwundern.

Von der Hochzeitsfeier zum Festival

 

Das Hauptgebäude des Chutor Gorajec in der Abendsonne (© Stowarzyszenie Folkowisko)

Vor zehn Jahren dann hat Marcin Piotrowski mit Unterstützung seiner Familie das Grundstück mit dem verfallenen Schulgebäude für 20 000 € gekauft und damit eine Menge Hoffnungen für die Zukunft verbunden. Jeden Sommer verbrachte er hier, um das Haus wieder instand zu setzen. Es gab eine funktionierende Tür mit Klinke. Ein Raum hatte noch Strom. Die Toilette ein altes Holzhäuschen im Garten. Die wenigen Wochen Urlaub, die Marcin jedes Jahr zur Verfügung standen, hätten für sein Vorhaben nie ausgereicht. Ohne seine Eltern wäre der Traum dieses Hofs, der zum Zentrum dieser Peripherie wurde, nicht in Erfüllung gegangen. Aber vor zwei Jahren starb Marcins Vater an Krebs. Seit dem Tod des Vaters kümmert sich Marcins Mutter Jola um den Chutor. Jola arbeitet als Polnischlehrerin in einer kleinen Stadt, 30 km entfernt. In Gorajec legt sie fast dieselbe Energie an den Tag wie ihr Sohn. Vor allem in den Sommerferien kümmert sie sich um Gäste des Chutors und bietet Führungen im Cerkiew, der alten ukrainischen Holzkirche gegenüber, an. Von Anfang an unterstützte sie Marcin und seine Frau Marina bei der Organisation des Festivals.

Für Marcin liegt der Ursprung des Festivals in der gemeinsamen Hochzeit mit Marina. 2008 feierte das Paar zusammen mit sechzig Gästen drei Tage lang, begleitet von der Folkband Żmije. Auf der Hochzeit beschloss man, sich zukünftig jedes Jahr zur gleichen Zeit mit den Gästen wieder diesem Ort zu treffen. Dieses Versprechen wurde mit einer Flasche Sekt im Boden vergraben. Mit dem Ausbau des „Chutor Gorajec“ zum kulturellen Zentrum und zur späteren Herberge entschied man sich schließlich dazu, aus diesem Zusammentreffen ein öffentliches Festival zu machen. Geboren 2008, getauft 2011, machte das „Folkowisko“ Gorajec zu einem Ausnahmeort in der polnischen Provinz. „Den Namen haben wir von meinem Onkel geklaut. Der hatte eine ähnliche Idee, aber ein Unwetter machte dem vorbereiteten Fest ein Ende.“ Die Liebe zu Folklore und Traditionsbewahrung liegt bei den Piotrowskis in der Familie. Und später sollte kaum jemand daran zweifeln (die stärksten Zweifel trug Marcin in sich), dass Gorajec der richtige Ort für dieses Festival war.

Frauenchor (© Stowarzyszenie Folkowisko)

Das erste offizielle Festival verlief noch wenig organisiert und wurde hauptsächlich von Freunden und Bekannten der Familie besucht. Ein Line Up gab es noch nicht, musiziert und gesungen wurde spontan. Der Wasseranschluss war gerade fertig gestellt, bis zum Anschluss an die Kanalisation sollten noch vier Jahre vergehen. Doch bereits die Premiere des Festivals konnte mit der Teilnahme Andrzej Stasiuks aufwarten, einem der national und international einflussreichsten Schriftsteller Polens. Die Teilnahme Stasiuks am Festival garantierte bereits früh dem Festival eine gewisse öffentliche Wahrnehmung, war aber für beide auch programmatisch. Stasiuk, der ca. 100 km entfernt in den Beskiden lebt, ist erklärter Regionalist, der immer wieder auf kritische Distanz zur ‚Verwestlichung‘ Osteuropas geht. Die weitere Geschichte des Folkowisko zeigt auch, dass die Piotrowskis und ihre Freunde die bäuerliche und dörfliche Lebenskultur vom Stigma der Beschränktheit und des Hinterwäldlertums befreien wollten. Und welcher Landstrich in Europa könnte dafür besser geeignet sein, als das untergangene Galizien, in dem sich die Geschichten und Sprachen Mittel- und Osteuropas kreuzten? In diesem Sinn wurde dann die zweite Auflage des Folkowiskos dem jüdischen und die dritte dem ukrainischen Galizien gewidmet. 2016 schaute das Folkowisko über den regionalen Tellerand hinaus und zeigte, dass Regionalismus durchaus mit universellem Anspruch kompatibel ist. „Trzy Galicje“ – Drei Galizien wurde maßgeblich von Iwona Domaszczyńska initiiert. Iwona ist Hispanistin und lebt im spanischen Galicien, einer ebenso randständig gelegenen Provinz mit geringer Bevölkerungsdichte und einem hohen Maß an regionaler Identität. Gorajec wird so zum internationalen Sehnsuchtsort. Tatsächlich leben die wenigsten der Organisatoren auf dem Land, ein Großteil nicht einmal in Polen. Sie gehören, wie auch der größte Teil der Gäste, zur städtischen Bildungselite. Manche von ihnen haben zwar irgendwann vor „aufs Land“ zu ziehen, aber es ist eben nicht das ganze Jahr über Folkowisko.

Geschichte bewahren, Utopien denken

 

Wenn Marcin über seine Vorstellungen vom Dorfleben spricht, fallen Begriffe wie „Solidarität“, „Gemeinschaft“ und „gegenseitige Unterstützung“. Eine Hoffnung nach einem Ausweg aus dem Hamsterrad der vereinzelten Arbeitskraft. Seit Jahren schon lebt er mit seiner Familie in Irland wie so viele andere Polen auch und arbeitet ohne Pause im Schichtdienst im Lidl und in einer Fabrik – als studierter Soziologe. Mit Marina, seiner einer russischen Familie in Estland entstammenden Frau, zieht er seine Kinder dreisprachig groß und versucht auch im Privaten, seinem multikulturellen Anspruch gerecht zu werden. Als Wirtschaftsmigranten im klassischen Sinne planen Marina und Marcin eines Tages nach Gorajec zurückzukehren, um sich dort mit dem in Irland verdienten Geld eine neue Existenz aufzubauen. Diese mögliche Lebensperspektive haben sie sich mit dem Chutor Gorajec und dem Folkowisko-Verein selbst geschaffen. Mit einer fast grenzenlosen Energie widmet sich Marcin darüber hinaus in der Zeit, in der andere Menschen den dringenden Schlaf benötigen, den Vorbereitungen des Festivals wie auch der polnischen Kulturarbeit in Irland. Als ein Vertreter der polnischen Gemeinschaft in Irland – auch in Irland stellen die Polen die größte Minderheit – traf er schon zum persönlichen Austausch mit dem Staatspräsidenten zusammen. In diesem Jahr wurde er für sein unermüdliches Streben um kulturellen Austausch als „Wybitny Polak“ (Hervorragender Pole) auf der Insel ausgezeichnet.

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Familie Marina und Marcin Sestasvili-Piotrowski (© Stowarzyszenie Folkowisko)

Wer so schuftet und kämpft, muss große Ziele und Ideale haben. Sein Ziel ist ein Leben in einer Gemeinschaft, in der sich alle helfen. Ohne zu zögern bezeichnet sich Marcin selbst als Linker. Und das in einem Land, in dem ca. 11 % der Wähler bei der letzten Wahl ihre Stimme linken Parteien gaben. Keine davon schaffte es in den Sejm, das polnische Parlament. Linkssein ist in Polen nichts Alltägliches und die Verbrechen der sozialistischen Vergangenheit haben sich tief ins kulturelle Gedächtnis eingebrannt. Und es gibt kaum einen Polen, der von sich selbst nicht als „Patrioten“ spricht. Auch Marcin fühlt sich als „stolzer Pole“. Für ihn ist die polnische Kultur und Sprache wie jede andere auch einzigartig und schützenswert. „Ich bewundere die Iren für ihren Kampf um Tradition und Sprache.“ Aber er weiß auch um die Schwierigkeiten, alte Traditionen und Bräuche in einer so schnelllebigen Welt zu bewahren. „Natürlich kann man niemanden dazu zwingen“, fügt er hinzu. Und am wichtigsten sei eine „offene Gesellschaft.“ Denn nur in einer solchen können Menschen andere Kulturen kennen lernen und einen gegenseitigen Austausch pflegen.

Hier wird klar, warum das Folkowisko vor allem ein „linkes Festival“ ist, wie Marcin erklärt. Und trotzdem verbinde er mit dem Festival keine politische Botschaft. Es sei eher die derzeitige Regierungspolitik, die das Festival zu einem Antipol gemacht habe. Im Rest Polens müsse man heute vor allem „Gott und Vaterland dienen“. Bei diesen Worten spürt man zum ersten Mal einen Hauch Resignation. Vielleicht ist es zu aussichtslos, von Politik in der Gegenwart zu reden. Vielleicht hilft auch der Rückgriff auf die Geschichte, um sich einem besseren Leben zu nähern. Der Verein des Folkowiskos will die Geschichten aller bewahren, auch derjenigen, die in Vergessenheit geraten sind. Neben den Juden und Ukrainern in dieser Gegend sind dies auch die vielen kleinen slawischen Volksgruppen im Süden Polens und in den Bergen der Ukraine und der Slowakei. Sie heißen Lemken, Goralen, Bojken, Huzulen. Wer sich nicht zum Polentum bekannte, wurde 1947 bei der Akcja Wisła (Aktion Weichsel) zwangsweise umgesiedelt. Zurück blieben verlassene Häuser, Kirchen, Friedhöfe.

„Steine können keine Geschichte wiedergeben. Das können nur lebende Menschen.“ Deshalb will Marcin alte Bräuche erhalten oder wiederbeleben. Auf dem Folkowisko kann man in Workshops Volkstänze, Regionalsprachen, Lieder und Handwerk lernen. Anders als im postmodernen Westeuropa spielt hier die Authentizität keine Rolle. Wo so viel verloren ging, sollte jeder das Recht haben, sich Kultur und Folklore anzueignen, so die Botschaft. Denn nur auf diese Weise können Traditionen, die vom Verschwinden bedroht sind, bewahrt werden. Und diejenigen, die doch nicht ohne Rechtfertigung auskommen, verweisen dann eben darauf, dass nur wenige Generationen zuvor sämtliche Vorfahren aus allen möglichen Ländern stammten. Mit einem kleinen Trick kann sich jeder seine Wunschidentität auswählen und der Spagat zwischen spätkapitalistischer Moderne und bäuerlicher Volkskultur gelingt. Damit werden auch in den nächsten Jahren vor allem Angehörige der großstädtischen Intelligenz aufs Folkowisko pilgern. Denjenigen vom Land, die sich ihrer Identität dagegen sehr sicher sind, liegt wenig am interkulturellen Austausch. Und wer warum in den Gräbern im Wald liegt, wollen sie auch nicht wissen.

Spontane Streich- Jam Session (© Stowarzyszenie Folkowisko)

Doch zumindest in Gorajec hat die von den Piotrowskis gestiftete Unruhe Wirkung gezeigt. Das ukrainisch-polnische Denkmal für die Opfer des Massakers wäre ohne die Arbeit der Familie undenkbar gewesen. Und am Ende ist es, wie Marcin bestätigt, vor allem Geld, das alte Gräben überwinden lässt. Gorajec und das Folkowisko haben sich in den letzten Jahren zu einem überregional bekannten Tourismusziel entwickelt. Budenbesitzer hoffen auf Einnahmen, die Gemeinde Cieszanów auf mehr Fördergelder. Und Marcin will schon jetzt, bei 2000 Gästen, die das Festival im Lauf der vier Tage in diesem Jahr besuchten, die Reißleine ziehen. Er hat Angst vor einer Kommerzialisierung und will keine Massenveranstaltung. Deshalb denkt er schon über eine Limitierung der Tickets, verbunden mit einer Art Bewerbung, nach. „Das Folkowisko lebt von allen Teilnehmern“, so Marcin. Wenn also die Ticketanzahl begrenzt werden soll, dann durch ein Auswahlverfahren, das eine aktive Teilnahme verspricht. Bis jetzt sind das nur spontane Ideen. Aber Marcin braucht nicht lange, um Ideen in die Tat umzusetzen. Weil ihm die Früchte seines Traums zu groß geworden sind, will er anfangen, diesen zu beschneiden. Noch dreht Marcin mit allen internationalen Besuchern kurze Werbeclips für das Festival in deren Sprache, aber vielleicht verzichten die Familie und ihre Mitstreiter bald auf jede Öffentlichkeitsarbeit und ich muss womöglich diese Reportage löschen. Dann könnte das Festival weiter ein Geheimtipp bleiben.

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